Johannadorn Überschrift
Johannadorn Biographie
Erinnerungen
Johanna Dorn, Seite 1

Meine früheste Erinnerung: ich darf im elterlichen Schlafzimmer, in der Mitte beider Betten, schlafen. Mich überkommt ein unendliches, unbeschreibliches Wohlbefinden, ein Gefühl der Geborgenheit. Ich höre den dumpfen Schlag der für mich so schönen Pendeluhr.

Sicher war mir noch oft das Glück zuteil, in diese Geborgenheit zu gelangen, doch meine Erinnerung führt mich nur auf dieses eine Mal zurück. Wie alt ich damals war, weiß ich nicht mehr genau, aber sicher kaum älter als drei Jahre. Aufgewachsen bin ich mit neun Geschwistern. Die Kindheit, meine Kindheit, verlief ähnlich wie bei den meisten armen Leuten. Vater fertigte unser Spielzeug selbst an, eine zum Subener Bach abfallende Wiese mit großen Bäumen war der Ort unserer Räuber-und-Gendarmen-Spiele. Ein entscheidendes Erlebnis war es für mich, als ich zum ersten Male ein Märchenbuch, das meiner älteren Schwester gehörte, ansehen durfte. Ich erschrecke über die Schönheit eines farbigen Bildes: Es zeigt viele Figuren, sie kommen mir alle wie Prinzessinnen vor. Das Bild wirkt lange nach.

Ich muß fünf Jahre alt gewesen sein, es ist Ostern, die versteckten Eier finde ich, aber ich habe keinen Osterhasen gesehen, so mache ich mich heimlich auf, ihn zu suchen. Es geht über den Berg hinüber nach Rossbach – aber der Osterhase zeigt sich nicht. Ich gebe nicht auf, überquere die Bundesstraße und lande schließlich bei einem Bauern. Die Bäuerin fragt mich, woher ich komme und was ich vorhabe. Ich erkläre ihr, ich sei auf der Suche nach dem Osterhasen. Eine junge Frau aus meinem Dorf, Suben, ist eben da, um Milch zu holen. Die Bäuerin bittet sie nun, mich heimzubringen. Wie sehr sich meine Mutter gesorgt haben musste, als ich nirgends zu finden war, kam mir freilich nicht zu Bewusstsein. Viele spätere Erlebnisse verblassten, dieser Ostersonntag aber ist mir in Erinnerung geblieben, sogar Einzelheiten: Daß ich Fleisch esse und einen Knödel verspeise.

                
Ich war ein eher zartes Kind. Eines Tages entdeckte meine Mutter an meinem Hals doldenartige Ausbuchtungen. Der Arzt schickte mich unverzüglich nach Bad Hall: Vater brachte mich mit der Bahn dorthin, und meine Mutter hatte eine Schachtel voll herrlicher selbstgemachter Bäckereien gefüllt, von denen ich am nächsten Tag nichts mehr sah. Die Schwestern dürften sich darübergestürzt haben, denn solche Feinheiten, aus weißem Mehl verfertigt, sah man damals nicht alle Tage. Es waren ja schlimme Kriegszeiten. Woher die Mutter in der Not des ersten Weltkrieges die feinen Zutaten auftrieb, weiß ich nicht. In Bad Hall gefiel es mir gar nicht. Täglich gab es eine Gerstlsuppe, und das Jod-Salz-Wasser mochte ich nicht. Ich hatte großes Heimweh, und an einem Kirchturm, den man in der Ferne sah, glaubte ich meinen Heimatort Suben am Inn zu erkennen. Eines Tages laufe ich ganz einfach weg, ich bin der Meinung, bald daheim zu sein. Zu meinem Glück schickt man mir einen jungen Mann nach, der mich einfangen soll. Als ich das merke, verstecke ich mich schnell in einem Hauseingang. Der junge Mann hat Pantoffeln an. Er verliert einen, läuft zurück, entdeckt mich und bringt mich wieder in das Spital. Ein anderes Mal bekomme ich eine Ansichtskarte von einer Subenerin. Auf der Karte ist ein Mädchen dargestellt, das über eine Brücke geht, über ihm schwebt ein großer Schutzengel. Dieses Bild gefiel mir sehr gut, ich schämte mich, dass ich noch nicht lesen konnte, und so verfiel ich auf den Ausweg, irgend etwas vor mich hinzuplappern, und stellte mich dabei so an, als ob ich´s von der Karte ablese.

Manchmal war ich krank, und wenn ich so dalag und auf die Decke schaute, begann mein erster Kunstunterricht. Die Zimmerdecke ist von vielen Rissen durchzogen, ja übersät. Aus ihnen kann ich zahlreiche Köpfe und Figuren entnehmen. Manche sind den Köpfen lebender Personen ähnlich, ich erkenne sie sofort: eine gefällt mir besonders, sie heißt Mitzi G. Mitzi trägt einen Mittelscheitel und über beiden Ohren einen Haarknödel. An dem Plafond sehe ich die Julie L., ebenso meine Geschwister, auch sie finden sich ein. Ob ich damals Zeichnungen gemacht habe? Erinnern kann ich mich nicht daran.

Doch als ich dann zur Schule ging, habe ich mir manches Stück Brot erarbeitet. Wenn Nikolo, wenn Weihnachten nahte, musste ich oft eine ganze Bankreihe versorgen, jedes Kind brauchte seine Zeichnung. In der Schule wurde ich des öfteren ausersehen, bei größeren Feierlichkeiten Gedichte vorzutragen. Bei einer Heldenehrung durfte ich den Kranz zum Denkmal hinlegen. In Suben wurde auch viel Theater gespielt, oft bekam ich die Hauptrolle übertragen, so war ich einmal ein „Sonnenguckchen“, das Mädchen eines Nachbarn war der Prinz. Ich war eine gute Schülerin und lernte sehr leicht. So kam der Tag, da es hieß, ich müsste mich für die Bürgerschule in Schärding bereithalten. Leider musste ich noch ein Jahr warten, der Lehrer sagte meiner Mutter, dass ich körperlich zu schwach sei. Das Jahr darauf war es dann soweit.
Meine Mutter machte mir ein Kreuzzeichen auf die Stirn, und ich ging nach Schärding. Es war noch die Zeit, in der wir sehr arm waren. Es fehlte am Nötigsten, oft hatten meine Eltern am Ersten des Monats nicht das Geld, den Ausweis für die Monatskarte der Bahn zu kaufen. Daher kroch ich im Abteil unter die Bank, die Mitschülerinnen hängten ihre Mäntel darüber, so dass der Schaffner mich nicht entdecken konnte. Die Personenzuggarnituren der damaligen Zeit wurden mit Dampf aus der Lokomotive beheizt. Die Heizschlangen befanden sich unter den Sitzbänken, so dass es sehr heiß war in meinem Versteck – besonders im Winter – und oft meinte ich, wenn der Schaffner nicht bald vorbei ist, muß ich herauskriechen. Aber -  es klappte immer.

Das liebste Fach in der Schule war mir Zeichnen. Viele Jahre später begegnete mir in Linz mein geliebter Zeichenlehrer Razima. Er hatte noch immer Zeichnungen von mir aufgehoben (später gab er sie mir, leider gingen sie verloren). Die Not war damals groß: Als einziges Essen hatte ich manchen Tag einen grünen Apfel, den ich unter dem Vordach der Eingangstüre der Schule aß. Im Winter war es da sehr windig, aber etwas war ich doch geschützt. Die Schule war über Mittag geschlossen.
Das war eine Strafmaßnahme. Die Buben hatten in der Freizeit die Bänke demoliert, so durften wir alle nicht im Klassenraum bleiben. Eine warme Suppe im Gasthaus konnte ich mir nicht leisten. Später gab´s eine Zubuße: eine Flasche Kaffee, den eine uns bekannte Geschäftsfrau für mich wärmte. Mitunter wenn der Kaffe sauer wurde, bekam ich von ihr, die selbst arm war, ein wenig zu essen. Sie hatte ein kleines Knopfgeschäft in der Kirchengasse.

Eine bevorzugte Stellung hatte ich in der Schule insofern, als ich die Direktionskanzlei in der Pause aufräumen durfte. Die drei Jahre waren vorüber, und ich sah mich sehr leid, da einige Schüler weiterstudieren konnten, ich aber daheim im Garten und im Haus helfen musste. Es gab viele Tränen, aber wir waren noch immer zu arm, als dass ich mein damaliges Traumziel, Lehrerin zu werden, anzustreben imstande war. Das leidige Schulgeld! Natürlich zeichnete ich alles, was mir unterkam. Als in Enzenkirchen Firmung war, fuhr ich mit meinem Vater auf dem Rad hin und erhielt eine Audienz beim Bischof. Der meinte, nur wenn ich den Schleier nähme, könne er mir eine Freistelle in der Lehrerbildungsanstalt verschaffen. Also fuhren wir unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Ich gab die Hoffnung nicht auf. Ich versteckte meine Schreibschachtel mit den Bleistiften – dazu einen Zettel: „Ich brauche euch noch“ – am Dachboden. Ich weinte jeden Tag, es sah aussichtslos aus. Die schlimmsten Jahre, da selbst Brot knapp war, hatten wir durchzustehen.

Eines Tages gab mir Bernhard Ludwig, ein lieber Sommergast und unser Nachbar, den Rat, nach Linz zu fahren zum Landesschulinspektor Doktor Franz Berger und ihn zu bitten, mir eine Freistelle in der Lehrerbildungsanstalt zu verschaffen, so dass ich kein Schulgeld zahlen müsste. Von der älteren Schwester borgte ich mir Strümpfe aus, Mutter, die sehr aufgeregt war, kratzte das Fahrgeld zusammen – und so fuhr ich nach Linz. Über Nacht sollte ich beim Onkel Franz bleiben, bei ihm wohnen. Leider verlor ich seine Adresse, die mir Mutter mitgegeben hatte. So ging ich durch die Stadt Linz und landete auf einer Bank am Donauufer, von der aus ich die Straße überblicken konnte. In Suben hatten wir nur eine Straße. So war ich der festen Meinung, mein Onkel müsste auf dieser Straße, nach Feierabend, daherkommen und hier bei mir vorbeigehen. Ich blieb sitzen und wartete auf ihn. Es wurde allmählich dämmerig, und ich begann mich zu fürchten. Endlich kam er. Er schob ein Fahrrad und hatte hinten auf dem Träger Hasenfutter aufgeladen. Ich sprang auf und sagte zu ihm: „Gut dass du endlich da bist!“ „Du Tschapperl!“, sagte mein Onkel, „wenn ich heut` nicht Hasenfutter holen hätt` müssen, hätte ich dich nie gefunden. Hierher komme ich sonst nie!“ Am nächsten Tag dann begleitete mich Onkel Franz vorsorglich zum Landhaus in dem der Landesschulinspektor sein Büro hatte.

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